DIE VETZGEREI – ALS DIE WURST IHR V BEKAM
Die Vetzgerei, Pflanzenbasierte Metzgerei
Berlin, Deutschland
Tante Emma lebt. Und zwar in Prenzlauer Berg. Hinter einer klassischen Metzger-Theke, in der Raumerstaße 36, begrüßt die Gäste jedoch keine alte Dame. Meistens stehen dahinter Sarah oder Paul Pollinger – sie sind um einiges jünger. Das Gefühl aber ist das gleiche: Tante Emma, die jedes Produkt in ihrem Laden genauestens kannte und dem Gast mit Liebe und Rat und Tat zur Seite stand, scheint in der „Vetzgerei“, mitten im Helmholtzkiez, wieder aufzuleben. Nur mit einem anderen Gesicht: „Für mich bedeutet Handwerk, auf die Qualität des Produktes einzugehen, auf die Grundzutat. Kartoffeln sind mal anders.. Paprika ist mal anders – das kann dann auch mal im Geschmack variieren“, erklärt Paul, während im Hintergrund eine alte Glocke an der Tür einen neuen Gast ankündigt. Die Nostalgie der Glocke ist es nicht, die den Raum mit Wärme füllt. Es sind Sarah und Paul. Kein Gast wird übersehen, jeder herzlich empfangen – es ist klar, dass sie die Glocke eigentlich gar nicht bräuchten, um ihre Gäste wahrzunehmen. Dabei ist die elegante Inneneinrichtung, mit den schwarzen Wänden und der dezenten Neonschrift „Vetzgerei” alles andere als verstaubt. Ein atmosphärisches Licht umgibt uns, während wir zusammen mit Sarah und Paul an dem kleinen Holztisch in dem gemütlichen Laden sitzen. Es riecht nach Geräuchertem – das verwirrt. Denn hinter der Theke kreiert das Ehepaar vegane Hausmannskost. Pflanzliche Aufschnitte und frische Aufstriche finden hier zu einer guten Scheibe Brot auf dem Teller Platz. Eine Vetzgerei eben.
„Dass Kühe schwanger sein müssen, um Milch zu geben… eigentlich total logisch – aber ich hab da nie drüber nachgedacht.”
Warum werden solche Aspekte nicht bereits in der Schulpolitik thematisiert? Fragen, die Sarah in den Raum stellt. Vegan lebt sie, seit sie Paul kennengelernt hat. Paul ist studierter Programmierer – mit dem Interesse zur Philosophie künstlicher Intelligenz. Einmal stolpert er dadurch über die Theorie: „Alle Wirbeltiere haben die ähnliche Erfahrung der Welt. Auch wenn es das Schwein vielleicht nicht so kommunizieren kann.“ Seine wachsende Empathie zur Gesamtheit aller Lebewesen, führt zu der Entscheidung: „Wenn ein Lebewesen nicht für mich sterben muss – dann will ich das auch nicht.“
„Persönlicher Kontakt. Gute Produkte – wie man es halt kennt, in einer Metzgerei.”
Bevor die Wurst ihr V bekam, haben Paul und Sarah vegane Schuhe vertrieben. Schon hier sind die beiden von einem ganzheitlichen Nachhaltigkeits-Anspruch geleitet, denn für beide war klar: vegan bedeutet nicht gleich nachhaltig. Viele Schuhe bestehen nur aus Kunststoff. Die Produktion? Nicht transparent. Hochwertige vegane Schuhe, handwerkliche Qualität, regional hergestellt – vertreiben sie also einfach selbst. Das Bewusstsein für diesen Qualitätsanspruch ist auf dem Markt jedoch noch nicht sehr ausgeprägt, die Aufklärungsarbeit dahinter zäh. Wie Leder. „Bevor es anfängt keinen Spaß mehr zu machen, sollte man es beenden“
Transparenz und Natürlichkeit, persönlicher Kontakt, gute Produtke. Ähnlich wie bei den Schuhen, hat es Sarah als Veganerin einfach gefehlt – die bedenkenlose Herkunft der Produkte, der echte, natürliche Geschmack: „In veganen Produkten können oft viel Konservierungsstoffe, viel Chemie stecken und auch überteuert verkauft werden. Durch ihr Bedürfnis nach Ehrlichkeit entsteht mit der Vetzgerei ein Ort für simple, pflanzliche Produkte. Pflanzliche Hausmannskost, alles selbstgemacht, unverarbeitet – ohne industrielle Herstellung, aus regionalen Bio-Zutaten. Qualität, die nachvollziehbar ist – vor allem auch durch den persönlichen Kontakt, die Betonung des Handwerks. Wie in einer guten Metzgerei.
“Die Leute wollen essen gehen, aber…. der Veganer will ja mit.”
Sarah schmunzelt, sie kennt die unangenehmen Situationen: „Es war einfach die Katastrophe. Man fühlt sich wie so ein Außenseiter, was ist jetzt für die Veganer?“ Dass Veganismus noch immer oft mit Skepsis betrachtet und Einschränkung verbunden wird, wenn es um Genuss geht, kann Paul schwer nachvollziehen: „Viele gute Sachen sind von Natur aus bereits vegan. Der Badische Kartoffelsalat zum Beispiel. Es schmeckt einfach gut. Und so soll es ja auch sein.“ Ausschließen möchten die beiden gerade deswegen niemanden: „Es sollen gute Produkte dabei herauskommen, die mit viel Liebe hergestellt werden und gut schmecken. Das sollte das einzige sein, was zählt.“
Beim Metzger bekommt man in der Regel ja nicht die feinen Sachen – es ist alles ein bisschen deftiger, traditionell.“ In der Vetzgerei ist das nicht anders. Hier serviert das Paar, zusammen mit der typischen herzhaften Stulle, Aufschnitte, klassische Salate und Beißer. Vor der traditionellen Küche verschließt sich das Konzept nicht: Königsberger Klopse finden in der veganen Theke ebenso ihren Platz, wie Kartoffelsalat und Vleischsalat.
„Man kann heute kein Unternehmen aufmachen – ohne zu sagen: wir achten auf Mensch und Welt. Uns alle.”
“Ich hab manchmal schon das Gefühl, es bewegt sich zu langsam.”
„Warum diese Lebensmittel, warum vegan?“ In der Aufklärung sehen sie einen elementaren Schlüssel, um nachhaltiges Bewusstsein auch im Alltag voranzutreiben. Besonders gern nimmt Sarah an kulinarischen Stadtführungen teil, bei denen die Vetzgerei von kleinen Gruppen zur Verkostung besucht wird. Dann wird es interessant. Denn „oft ist es so, dass die Leute mit dem Veganen nichts am Hut haben, die eigentlich gar nichts davon wissen wollen.“ Der Moment, wenn die Vetzgerei durch Geschmack überzeugen kann, ist für Sarah goldwert. Dass viele ihrer Kunden gar nicht vegan sind, motiviert die beiden umso mehr
Die Vetzgerei organisiert Workshops. Einmach-Workshops, um Lebensmittel wieder wertzuschätzen, mit der Einfachheit des Haltbarmachens zum Beispiel. Auf den Holzregalen im Laden präsentieren sich gefüllte Einmachgläser. Darin: Rezepturen zum Selbermachen. Das Paar möchte anregen, sensibilisieren, wenn es um die Feinheit, den Wert von Zutaten geht. So arbeiten sie sich Schritt für Schritt voran. Für all diese Aktionen bedarf es für Sarah und Paul keine große Umstellung. Es kommt aus ihrem Inneren, ganz natürlich, ist für sie „der einzige Weg, um vorwärts zu kommen.“ Gerade deswegen fällt es Sarah in manchen Momenten schwer, nicht die ganz großen Schritte auf einmal machen zu können: „Manchmal hab ich schon das Gefühl, es bewegt sich zu langsam. Die Schritte sind zu klein.“ Die Nähe zum Gast ist es, was für Paul und Sarah die Vetzgerei ganz besonders macht. „Wir wollen hier im Kiez für den täglichen Einkauf da sein. Dass man seinen Einkauf macht und dann mit der Familie zuhause gemeinsam isst. Die Vetzgerei, ein Bestandteil des Kiezes. Kein veganer Hype-Laden, kein Szene-Imbiss.
„Man sollte nicht das große Ganze aus den Augen verlieren. Wenn auch Bio-Marken anfangen, komisches Zeug zu reden – dann wird es schwierig.”
„Es stand völlig außer Frage, dass wir nachhaltig sein wollen. Man kann heute kein Unternehmen aufmachen – ohne zu sagen: wir achten auf Mensch und Welt. Uns alle.“ Etwas anderes würde in der Tat keinen Sinn machen, je länger man Paul und Sarah zuhört. Der Antrieb kommt aus ihnen heraus, ist ihnen implizit, eine Selbstverständlichkeit. Nachhaltigkeit bedeutet für die beiden nicht nur Bio. Es ist die Gesamtheit, die schlüssig sein muss. Die soziale Nachhaltigkeit ist für sie ein so selbstverständlicher Teil davon, wie das Bio in ihren Zutaten. Mit Bedacht entsteht das Vetzgerei-Team, in dem sich alle als ein Teil vom Großen Ganzen betrachten sollen. Food Sharing, das Ermöglichen von Obdachlosen-Speisen oder auch das Angebot von SirPlus – die Vetzgerei ist dabei. „Wenn man es richtig macht, kann das Vegane einen großen Teil dazu beitragen.“ Täglich steht Sarah deswegen für ihre Vision im Laden.
In Deutschland müssen immer mehr Metzgereien schließen. Dass sich eine Metzgerei mit V hingegen behaupten kann, in der für Vürste und Vleischbällchen nie ein Tier gestorben ist, macht Hoffnung. Hoffnung, dass eine neue Esskultur im Kiez, im Alltag ihren Platz finden kann. Dass die EU sich nun um die Bezeichnung veganer Produkte kümmert, tangiert Sarah und Paul weniger.„Ich finde Verbraucherschutz wichtig, aber davon auszugehen, dass jeder, der vegane Wurst anbietet, ein Trickbetrüger ist – was das Gesetz ja doch suggeriert… das halte ich für Schwachsinn“, lacht Paul herzhaft. „Es ist bisher ja auch niemand auf die Idee gekommen, dass ein ‘Diät-Keks’ nicht ‘Diät-Keks’ heißen darf, weil da kein Zucker drin ist.” Sarah und Paul wissen, dass es andere Dinge gibt, für die es sich mehr lohnt Energie zu investieren. Dinge, bei denen es für die beiden wirklich um die Vurst geht.
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16.08.2019
von Balázs Tarsoly
Die Vetzgerei, Raumerstraße 36, 10437 Berlin
www.dievetzgerei.berlin
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